An den Küsten des Atlantiks wachsen auf den Felsen und Algen der Gezeitenzone bunte, kleine Lebewesen. Sie sehen aus wie Blümchen. Blumen im Ärmelkanal? Weit gefehlt, die dekorativen Blumen- oder Sternmuster stammen von Tieren! Besser gesagt: Es SIND Tiere. Und: Unsere nächsten Verwandten sind Seescheiden!
Stern-Seescheiden oder Stern-Aszidien sind kolonial lebende Manteltiere, die auf Algen, Steinen oder Muschelschalen wachsen. Manteltiere verblüffen mich, sie sind einfach zu exotisch: Sie sind am Untergrund festgewachsen und bewegen sich nie vom Fleck. Man erkennt kein Gehirn, keine Sinnesorgane - Augen oder Ohren sind nicht vorhanden. Auch nichts, was wie eine Nase ausschauen könnte.
Viele Seescheiden leben alleine. Manche leben in Gruppen, in Kolonien. Jede Kolonie besteht aus mehreren Individuen, die man Zooide nennt. Die einzelnen Zooide muss man sich vorstellen wie winzig kleine Salatsiebe mit zwei Öffnungen. Sie sind maximal drei Millimeter gross. Die Zooide saugen planktonhaltiges Wasser durch eine Einströmöffnung an und sieben daraus ihre Nahrung. Das Organ, das dies ermöglicht, ist der sogenannte Kiemendarm. Das Restwasser wird durch eine gemeinschaftliche Öffnung ausgestossen, um die herum die Zooide angeordnet sind. Sie sind perfekte Plankton-Filtrierer!
Stern-Aszidien sind wissenschaftlich gut untersucht. Und wahnsinnig spannend. Sie «klonen» sich häufig selbst, so machen sie perfekte Abbilder ihrer selbst. Die Klone werden seit mehreren Jahrzehnten in Laboren gehalten. Dadurch kennt man sie mittlerweile sehr genau, auch ihr Genom ist vollständig entschlüsselt. Bei der Selbstklonung entwickeln sich immer neue Erwachsene aus «Knospen», die sich aus der Körperwand bestehender Erwachsener bilden. Unglaublich, nicht wahr?
Unter typischen Kulturbedingungen findet diese asexuelle Vermehrung in einem etwa zweiwöchigen Zyklus statt. In der Natur wohl auch, genaueres weiss man aber nicht. Während die neue «Knospe» wächst und beginnt, sich aktiv zu ernähren, bilden sich die ältesten Erwachsenen langsam zurück und werden von der Kolonie wieder absorbiert. Sind die Bedingungen gut, dann wächst die Kolonie schnell und bildet Tochterkolonien. So bilden sich ganze «Blümchenwiesen».
Die Sternaszidien können sich aber auch klassisch durch Sex vermehren. Wobei auch hier wieder ein paar Dinge speziell sind: Die Aszidien sind auf Biologisch «sequenzielle, protogyne Hermaphroditen». Was lediglich bedeutet, dass die Tiere Zwitter sind, mit einem anfänglich weiblichen Stadium, das nach ein paar Tagen zum Männchen wird. Dies verhindert eine Selbstbefruchtung der Eier. Eier und Spermien werden einfach ins offene Wasser ausgestossen. Es entstehen daraus gelblich-weisse bis blassorange Kaulquappenlarven, die einen wichtigen Beweis für ihre Verwandtschaft mit uns Wirbeltieren darstellen.
Richtig gelesen: Seescheiden sind tatsächlich mit uns verwandt! Sie haben zwar keine Wirbelsäule, aber im Larvenstadium – wie wir – eine Chorda oder Rückensaite. Die Chorda dorsalis ist das ursprüngliche Achsenskelett aller Chordatiere, zu denen die Wirbeltiere – Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger – und eben auch die Seescheiden gehören. Die Chorda leitet bei uns während der Embryonalentwicklung vor allem die Bildung wichtiger Gewebe ein, danach bildet sie sich bis auf kleine Reste zurück.
Welche Formen- und Farbenpracht! Sternseescheiden gibt’s in allen möglichen Farben und Farbmustern. Obwohl alle so verschieden aussehen, ist es doch nur eine Art. Die Grenzen der einzelnen Kolonien sind deutlich zu erkennen. Jedes «Blümchen» misst etwa fünf Millimeter.
Oft überwachsen die kolonialen Tiere auch grosse Braunalgen, sogenannte Tange. Die bilden einen sicheren, festen Untergrund in der Brandung und beste Bedingungen, um Plankton zu filtrieren.
Jedes «Blümchen» besteht aus fünf bis 12 Individuen, die aus geklonten Vorgängern hervorgegangen sind.
Man sieht die individuellen Einströmöffnungen gut. Im Zentrum des «Blümchens» liegt die gemeinsame Ausströmöffnung.
Es lohnt sich manchmal, Felsbrocken zu wenden. Die Vielfalt an Tieren, die sich darunter vor der Brandung schützen, ist extrem. Aber nicht vergessen: Steine und Felsen der Gezeitenzone haben eine Ober- und eine Unterseite. Bitte wieder zurückwenden!
9 Kommentare
für meine Geschichte über eine "ururalte Muschel" habe ich schon Einiges an Recherche betrieben und bin mittlerweile sehr beeindruckt über das, was das Meer an bizarrer, oft wunderschöner Artenvielfalt zu bieten hat. Die meisten Artikel sind allerdings von Fachwörtern gespickt, die die kognitive Verarbeitung für einen Nichtbiologen erschweren. Ihre Erklärungen hingegen sind sehr gut verständlich und einleuchtend. Danke dafür und ebenso für die phantastischen Photos!
Vielen Dank für das freundliche Feedback!
Vielen Dank für die Blumen!
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